Friday, June 02, 2006

Chaos in Kabul

29.05.2006

Als ich mich entschlossen habe, ein Praktikum in Afghanistan zu absolvieren, habe ich natürlich mehr als einmal über die Gefahren nachgedacht, die damit verbunden sind. Ich habe versucht mir auszumalen, in welche Situationen ich kommen könnte und wie ich regieren würde.

Aber natürlich sieht die Wirklichkeit anders aus!

Diesen Montag werde ich wahrscheinlich mein Leben lang nicht vergessen. Zum einen weil ich erlebt habe wie es ist sich in Lebensgefahr zu fühlen, zum anderen weil ich viel über Menschen und ihr (bzw. mein) Handeln in Extremsituationen gelernt habe.

Aber von Beginn an: Am Montag Vormittag waren plötzlich überall in Kabul die Sirenen von Krankenwagen und Polizeifahrzeugen zu hören. Ein Mitarbeiter, den ich zur Bank geschickt hatte, berichtete, dass viele Straßen in der Stadt gesperrt sind und Schüsse zu hören waren.

Also Fernseher an und Informationen sammeln: Ein US-Militärkonvoi mit schweren Lastwagen hatte in einem Unfall zwei Taxi zermalmt und dabei einen Menschen getötet und viele verletzt. Daraufhin kam es zu spontanen Protesten der Afghanen gegen die GI’s. Die Fahrzeuge wurden mit Steinen beworfen und ein wütender Mob kreiste die Soldaten ein. Wer einmal eine US Patrouille in Kabul hat fahren sehen, der kann zumindest ein wenig Verständnis für die Wut empfinden, denn wer den Anspruch hat in einem Land bestimmte Regeln durchzusetzen, der sollte sich auch selbst an diese halten.

Was passierte nachdem die wütende Menge anfing Steine zu werfen, darüber kursieren unterschiedliche Berichte. Die Militärs wurden wohl nervös und begannen zu schießen.

Nach eigenen Angaben haben sie über die Köpfe der Demonstranten geschossen und zur Hilfe eilende afghanische Polizei hat dann in die Menge gezielt. Andere Stellen berichten, sie hätten selbst das Feuer auf die Angreifer eröffnet und seien dann einfach durch die Menschen hindurchgefahren. Wie auch immer, das Resultat waren 30 Tote und viele Verletze.

Gegen Mittag brachte das Fernsehen die Meldung, eine große Gruppe Demonstranten hätte sich im Regierungsviertel versammelt und wolle durch die Stadt ziehen. Zwei meiner Mitarbeiter riefen an und meldeten, sie könnten nicht kommen, da der Weg versperrt ist.

Über der Stadt waren Rauchwolken zu sehen, wie sie entstehen wenn Reifen angezündet werden.

Auf einmal waren in einiger Entfernung Schüsse zu hören und das Gerücht kam auf, dass die Ausschreitungen sich in unsere Richtung bewegen würden. Ein weiterer Mitarbeiter rief völlig aufgelöst an und teilte mit, eben wäre gerade vor ihm ein Mensch von der Polizei erschossen worden, er sei gerade noch so entkommen. Langsam brach die Angst aus in unserer Straße. Geschäfte wurden verschlossen und Autos weggefahren. Das kurioseste allerdings war, die Polizisten am nahegelegenen Kontrollposten tauschten ihre Uniformen gegen Zivilkleidung und machten sich vom Acker. Inzwischen war klar, dass unser Viertel Ziel von Angriffen werden würde, da hier viele NGO’s untergebracht sind und viele Ausländer leben, die inzwischen kollektiv Ziel des Zorns geworden waren.

Auf der Straße braut sich was zusammen

Eine deutsche Journalistin, Frederike, die gerade bei uns zu Gast war, schlug vor, eine Leiter an die hintere Wand des Innenhofes zu stellen, um einen zweiten Weg aus dem Gebäude zu haben. Als Geschrei, Glassplittern und vereinzelte Schüsse ganz bei uns in der Nähe zu hören waren, tauchten auf einmal Menschen auf der Mauer zu unserem Nachbargrundstück auf, zuerst ein Mann. Ich dachte: „Scheiße sie kommen!“ Er saß in der Hocke auf der Mauer und ich stand alleine davor. Als ich ihm in die Augen sah, wurde mir allerdings klar, dass er in diesem Moment genauso viel Angst hatte wie ich. Hinter ihm tauchte eine Frau, eine Chinesin, auf und mir wurde klar, dass sich dort wohl die Belegschaft des angeblichen Chinesenpuffs neben unserer Mediothek in Sicherheit bringen wollte. Ich gab ihnen zu verstehen, dass sie rüber kommen sollten. Inzwischen hatten auch die afghanischen Mediotheksmitarbeiter Wind von der Sache bekommen und waren gar nicht begeistert. Die Chinesen waren eine zusätzliche Gefahr für uns, soviel war klar.

Die Puffbelegschaft zu Besuch

Auf den Häusern um uns herum standen auf einmal überall Leute, die sich wohl dort in Sicherheit bringen wollten. Allerdings war nicht klar, ob sie nicht doch eine Gefahr für uns darstellten. Daher mussten die Chinesen und ich uns verstecken, da wir deutlich als Ausländer erkennbar waren. Frederike flüchtete über die Leiter zu den Nachbarn. Bei einer afghanischen Familie ist es in einer solchen Situation sicherer, als in einem Gebäude, das von aussen deutlich als internationale NGO erkennbar ist. Da bei den Nachbarn allerdings nur Frauen zu hause waren, wollten die keine Männer aufnehmen, die Chinesinnen wurden besser erst gar nicht erwähnt.


Ich sollte in ein Zimmer im Erdgeschoss gehen und mich dort einschließen, die Chinesen sollten im Vorraum bleiben. Durch das Fenster konnte ich sehen wie direkt vor unserem Haus auf der Straße Rauch aufstieg, wohl ein brennendes Auto, und ich hörte Geschrei und Fensterscheiben splittern. Außerdem konnte ich hören wie der Mob gegen ein Blechtor trommelte. Aus dem Fenster konnte ich auch die Mauer über die die Chinesen gekommen waren sehen. Ich hörte das Blechtor nachgeben und kurz danach sah und hörte sich wie auf dem Nachbargrundstück, keine 5 Meter von mir weg, die Zerstörung begann. Als es nach 10 Minuten etwas ruhiger wurde, öffnete ich meine Tür, um nach den Chinesinnen zu sehen. Die saßen immer noch verängstigt im Vorraum und bedankten sich bei mir, dass sie bleiben durften. Da mir nichts besseres einfiel, machte ich uns erst mal einen Tee. Dann verließ ich den Gebäudeteil, um die Lage zu erkunden. Zwei meiner Mitarbeiter, ein AIESECer und 9 Mediotheksleute (darunter drei heulende Putzfrauen) waren im Vorhof versammelt.

Die Straße vor meiner Tür

Ich gab ihnen zu verstehen, dass ich mich nicht mehr in dem Raum verstecken wollte. Daraufhin bekam ich afghanische Kleidung inklusive Kopftuch, damit mich niemand als Ausländer erkennen könne. Ich holte meinen Photoapparat schoss ein paar Bilder. Vom Nachbargrundstück stieg Rauch auf.

Plötzlich wurde der Rauch stärker und Flammen schlugen hoch. Es hatte wohl jemand einen Molotovcocktail in das Gebäude geworfen. Die Flammen schlugen über die Mauer unseres Grundstücks. Wir begannen die Holzteile von der Mauer zu reißen, sowie die EDV-Gegenstände aus dem direkt angrenzenden Büro zu retten. Hier machte sich meine Verkleidung bezahlt, denn lediglich die Nase hat eine ordentliche Dosis Hitze abbekommen.

Feuer im Nachbarshaus

Falls es hier so aussieht als ob ich grinse, dann ist das warscheinlich nur die Freude über die gelungene Verkleidung

Als das Gebäude in hellen Flammen stand gab es nicht mehr viel was wir tun konnten, denn der Strom für die Wasserpumpe war auch inzwischen ausgefallen.

Der Chinesenpuff brannte bis auf die Grundmauern herunter, unter dem Gejohle kleinerer Gruppen, die immer noch auf den Straßen herummarodierten.

Nach über drei Stunden Anarchie erschien endlich Polizei auf den Dächern. Weiter die Straße hinauf, war erneut Gewehrfeuer zu hören. Die Polizei wollte uns evakuieren, unsere Afghanen hatten dafür aber nur Protest und Anschuldigungen über: „ Ihr wollt doch nur, dass wir hier abhauen, damit ihr das Haus ausräumen könnt!“ Soviel zum Image der Ordnungshüter.

Nach drei Stunden Chaos erscheint die Polizei

Jetzt als es ruhig wurde, kam auch Frederike zurück. Sie entschloss sich, einen Fahrer des Goetheinstituts Kabul zu bitten, sie abzuholen, da es dort sicherer sei. Ich wollte zunächst bleiben, allerdings bestand die Gefahr, dass sich herumspräche, dass wir die Chinesen aufgenommen haben, also nahm ich das Angebot, welches einer meiner Mitarbeiter (Jawanshir) mir gemacht hatte an, die Nacht bei seiner Familie unterzukommen. Gemeinsam mit ihm und in meiner „Original Afghane“ Verkleidung ging es in einem Taxi durch die Stadt. Das Gebäude der Hilfsorganisation CARE war ebenfalls abgebrannt, an manchen Wänden sah man Spuren von Molotovcocktails, viele Scheiben waren zersplittert.

Das ausgebrannte Nachbarshaus

Wie Jawanshir mir nach der Fahrt erklärte, hätte meine Verkleidung wohl funktioniert. Der Fahrer hätte die ganze Zeit über gegen die dekadenten Ausländer gewettert.

Bei seiner Familie wurde ich herzlich aufgenommen. Wir haben lange über Afghanistan und Politik diskutiert und sein Vater hat die ganze Nacht über Wache gehalten.

Etwas, was ich sehr deutlich empfunden habe ist, dass im Angesicht der Gefahr die Sinne plötzlich sehr viel stärker zu arbeiten beginnen.
Mann denkt parallel an verdammt viele verschiedene Dinge: "Wo finde ich ich den nächsten Knüppel? /Wie kann ich mich möglichst deeskalierend verhalten?/ Könnte ich Angreifer nur mit festen Blick und Furchtlosigkeit beeindrucken?..." Die größte Frage ist allerdings: "Wie kann ich mich in dieser Krisensituation am effektivsten einbringen?/ Herrscht an einer Stelle Entscheidungsschwäche oder ordnet man sich erfahreneren Menschen unter?" Das stärkste Gefühl in mir war allerdings: "Bloß nicht untätig sein und den anderen Mut machen!"

Ich bin ehrlich gesagt ein klein wenig Stolz, dass ich im Nachhinein von den Afghanen zu hören bekomme, dass ich unheimlich locker gewirkt hätte, sogar noch den ein oder anderen Spaß auf den Lippen hatte und alle wichtigen Momente auf meiner Digicam festgehalten habe. In Wirklichkeit hatte ich natürlich unheimlich Schiß!

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